Über ein Jahr nur „ICH ALLEIN ZU HAUS“ hinterlässt Spuren. Sobald ich unter Leute will, meldet sich freudig meine kleine Angst zurück. Noch ist sie schüchtern, aber trotzig macht sie mir klar, dass sie unbedingt dabei sein muss, wenn schon mal was los ist in meiner Rentnerinnen-Corona-Dümpelei!
Ich begrüße sie, weise ihr ihren Platz zu und treffe ab und zu Menschen und Ärzte.
Heute sind der Hausarzt und der große Gesundheitsscheck Teil I dran. Dazu muss ich den Wecker stellen (!) und kurz nach acht (!) los.
Mein Termin für ein Vorgespräch, den ich vor zwei Wochen telefonisch vereinbart hatte, befindet sich nicht im System der Praxis, was mich kalt lässt. Ich will gleich einen neuen verabreden und wieder nach Hause eilen. Aber so schnell lassen sie mich nicht gehen. Ein kurzes Gespräch mit dem Arzt wird eingeschoben und danach eine Menge Blut abgenommen. Zwischendurch hört mein Blutfluss auf, was mir noch nie passierte. Nichts will durch die Kanüle. Ich finde das lustig und schiebe es meinem Alter zu. Die Arzthelferin schiebt es sich selber zu und probiert weiter, bis der rote Saft wieder fließt.
Dann will sie meinen Blutdruck messen. Ich will das nicht und lieber mein eigenes Blutmessgerät mit den Werten der letzten Tage vorzeigen. Aber das wiederum will sie nicht und so wird gemessen. Meine Güte! Natürlich ist mein Blutdruck viel, viel höher als der, den mein eigenes Messgerät vorweisen kann. Die Arzthelferin trägt beide Werte ein und ich meine zu erkennen, wie sie sich ein Grinsen nicht verkneifen kann. Ich denke, meine kleine Angstattacke ist hier sehr gut ablesbar. Zuhause werden meine Werte übrigens wieder völlig in Ordnung sein. Also gut, schnell noch Pipi abgeben und dann nichts wie weg. Aber ich will noch probieren, ob ich einen Impftermin ergattern kann. Nein, kann ich nicht. Ich komme nicht einmal auf die Warteliste. Die ist nämlich lang und muss erst abgearbeitet werden. Im Juni soll ich anrufen, denn dann gibt es eine neue Liste. Ich kann mich auch ans Impfzentrum wenden, sobald ich eine Impfeinladung erhalte. NEIN! WILL ICH NICHT! Ich müsste nach Uelzen fahren. 40 Kilometer hin und 40 Kilometer zurück! Die Bilder der Impfzentren sind purer Horror für mich und eine große Freude für meine kleine Angststörung. Ja, das versteht die Frau hinter dem Tresen und dann erzählt sie noch einmal von der unermesslich langen Warteliste. Vorletzte Woche hat die Praxis 6 Dosen erhalten und letzte Woche 25.
Kann also dauern das Ganze! Ich bleibe weiter geduldig. Kommt ja jetzt auf ein paar Monate mehr oder weniger auch nicht mehr an, oder? Und wer weiß, vielleicht mache ich mich ja doch noch auf ins Impfzentrum nach Uelzen, sobald ich eine Einladung und dann einen Termin erhalte. Meine kleine Angst reibt sich schon die Hände.
Ich verlasse die Praxis und besteige mein Fahrrad, das schon sehnsüchtig auf mich wartet. Glücklich und zufrieden drehe ich meine übliche Runde. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, die Schafe tun gar nichts und meine Lieblingskuhherde liegt noch faul herum. Ja, es ist immer noch früh und der ganze Tag liegt noch vor mir.
Und jetzt wärmt die Sonne das Land. Ich bereite mein Essen zu und kann dann gleich meinen Leseplatz auf der Terrasse einnehmen. Gestern begann ich meinen neuen Stephen King (Neuer Thriller von Stephen King: Der junge Geisterseher – taz.de) und kann es gar nicht erwarten, weiter zu lesen. Fragt mich bitte nicht, warum sich Angststörung und Stephen King miteinander vertragen. Ich weiß es nicht, aber sie tun es bestens! Und wenn ich lese, dass King 2018 den „PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die Humanität zu verteidigen,“ erhielt, muss ich dann doch schmunzeln. Sein Ruf ist bei vielen Leuten ja ein ganz anderer.
Heute habe ich das Gefühl, richtig viel geleistet zu haben. Morgen ist frei, Donnerstag ist Einkaufstag und Freitag wieder Video-Konferenz mit dem Lesebeirat der Zeitungsredaktion. Meine kleine, winzige Angststörung findet es prima, dass sie mich bald wieder ärgern kann, auch wenn ich nach außen hin weitgehend gelassen bleibe. Mein Blutdruck verbündet sich doch immer wieder mit ihr, darauf kann sie sich verlassen! 😂