„In unserer Gesellschaft gibt es kein Recht mehr auf das Altern.“
Dieser Satz wurde gestern beim Qi Gong ausgesprochen. Diesen Satz werde ich gar nicht mehr los. Ich nahm es bisher bewusst nicht wahr, aber für mich ist er gültig. Nicht nur gesellschaftlich gesehen, sondern viel mehr in mir selbst. Ich nehme die Botschaften der Werbung und der Medien immer noch in mir auf. Auch für meine Altersgruppe gilt: sei aktiv, sei sportlich, sei schlank, sei gesund, sei attraktiv, gebe alles, sei sexuell aktiv und begehrenswert. Ich finde sie richtig, auch wenn sie meinen Trotz wecken, weil ich ihnen nicht entsprechen kann oder will. Ich bin immer noch nicht frei vom Druck, besser aussehen zu wollen, als ich aussehe und aktiver zu sein, als ich bin. So sehr ich diese Einstellung auch ablehne und so sehr ich dagegen angehe, ich fühle mich nicht recht wohl in meiner Haut, im wahrsten Sinne des Wortes.
Das gestand ich mir gestern ein. Altern ist Mist. Es soll am liebsten nicht da sein und ich schäme mich, dass ich es nicht aufhalten kann. Wenn ich ganz ehrlich mit mir selbst bin, ist das so. Nach außen hin gebe ich es nur ungern zu. Beschwichtigungen nützen nichts und getröstet werden will ich auch nicht. Ich weiß es ja selbst besser. Das Wissen und die (unbewusstes) Gefühle kommen hier aber noch nicht zusammen.
Bei meiner Verabschiedung aus dem Berufsleben sagte mein Arbeitgeber, dass man im Alter nicht zu Hause hocken bleiben darf, man muss raus gehen, sich Aufgaben suchen, noch gebraucht werden. Ich widersprach meinen Arbeitgebern nie gerne, aber an diesem Tag tat ich es doch: „Ich bin ganz froh darüber, zu Hause bleiben zu können. Mein Sofa ist sehr gemütlich“, rutschte es mir in meiner Dankesrede raus. Ich war selbst erschrocken darüber, trotzdem empfand ich es so. Ich war ausgebrannt. Ich hatte Lust auf Erholung. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen.
Ich wollte mir Aufgaben suchen. Ich wollte gebraucht werden. Aber es ging nicht. Mein Selbstbewusstsein riet mir, die Zeit zu nutzen, mich um mich selbst zu kümmern und gesund zu werden. Mich kennen zu lernen. Das tue ich bis heute und ich gebe zu: ich werde nicht mehr gebraucht. Es geht mir gut damit. Aber immer noch regt sich der Antreiber (?) in mir und sagt, ich habe kein Recht darauf, so faul und selbstsüchtig zu sein. Es gibt genug Aufgaben und Aufgaben braucht der Mensch nun einmal. Sonst ist er auf dem Abstellgleis. Und das ist schlecht.
Vorbilder sind alte Menschen, die mit 70 noch Extremsport betreiben. Die ehrenamtlich hart arbeiten und sich für ihre Mitmenschen einsetzen. Die sexuell voll auf der Höhe sind, und besonders die, welche wesentlich jüngere Partner haben. Die vom Reisen nicht genug bekommen. Die sehr viel jünger aussehen, als sie sind. Ein „Du siehst gut aus für dein Alter!“ freut mich, tut mir aber auch ein wenig weh. Ich bin ja selbst so. Ich registriere Alterserscheinungen bei mir und anderen sehr genau. Ich vergleiche mich. Warum erlaube ich mir und anderen nicht, so alt auszusehen, wie wir sind? Warum ist das überhaupt ein Thema für uns?
Von alten Menschen wird erwartet, dass sie sexuell aktiv sind. Menschen, die das Thema für sich abgeschlossen haben, scheint es nicht zu geben. Und wenn es sie gibt, ist es nicht wünschenswert. Muss sich ein Mensch wirklich bis ins hohe Alter mit der Sexualität der Jugend messen? Ist das Leben nur schön, wenn Sexualität noch eine große Rolle spielt? Ist es nicht auch völlig in Ordnung, wenn sie nebensächlich wird? Ich neige leider dazu, Alleinstehende abzuwerten und diejenigen zu bewundern, denen es gelingt, im Alter noch einen Partner zu haben oder einen zu finden. Obwohl alleine die Tatsache, einen Partner zu haben, noch nichts über die ausgelebte Sexualität aussagt, natürlich nicht. Ist doch auch fragwürdig, so eine Einstellung, oder? Asche über mein Haupt und ein Umdenken ist unbedingt angesagt.
Ich war so empört, als ich nach Renteneintritt in der Volkshochschule auf alte Menschen traf. Ich wollte unbedingt nicht dazugehören. Ich sträubte mich dagegen. Heute geht es mir gut mit Menschen, die zehn oder zwanzig Jahre älter sind als ich. Ich öffne mich dieser Altersgruppe, die ich vor ein paar Jahren überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Sie gehörte nicht in meine Welt.
Es gibt bei mir kein wirkliches Recht auf das Altern. Die Veränderungen des Körpers machen mich sauer und mir ein schlechtes Gewissen. Keiner braucht heutzutage mehr alt auszusehen. Es gibt für alles eine Creme, ein Mittelchen, einen Sport oder eine OP. Ich frage mich in diesem Zusammenhang, ob es für mich ein Recht auf Behinderung und Krankheit gibt. Die ehrliche Antwort lautet auch hier leider nein. Für andere immer, da bin ich tolerant. Aber ich? Ich schäme mich insgeheim für meine Gelenkverformungen. Ich denke, ich habe selbst Schuld daran, dass meine Arthrose so schmerzhaft ist. Nicht genug Sport getrieben! Ungesundes Zeugs gegessen! Nicht genug Bewegung heute. Nicht genug positives Denken. Dann kann es ja auch nicht besser werden. Medikamente machen mich noch kränker. Weg von der Schulmedizin, hin zur alternativen Behandlung. Kräuter, Gewürze und Basenbäder werden es richten. Wenn nicht, habe ich eben nicht genug getan. Es ist nie genug, immer noch nicht.
Es geht mir gut. Ich will nicht missverstanden werden. Wenn Alte Sport treiben, sexuell auf der Höhe sind und Ehrenämter bekleiden, ist das toll. Wenn sie glücklich mit ihren Lebenspartnern sind und fröhlich durch die Welt reisen, ist das prima. Wenn sie sich jugendliches Aussehen erhalten, wunderbar! Ich bin froh, in diesen Zeiten alt zu werden, in denen wir so viele Möglichkeiten haben. Ich bin nicht auf eine bestimmte Rolle festgelegt. Ich kann mich kleiden, wie ich will, ich kann Sex und sogar jüngere Partner haben. Ich kann lesbisch sein oder gar nichts. Trotzdem hat mich der Satz: „Es gibt kein Recht mehr auf das Altern“ doch so sehr berührt. Ich überlege immer noch, warum eigentlich.
Alt werden wollen wir alle. Alt sein nicht. Uns einzugestehen, dass vieles nicht mehr so geht wie früher, ist schwer. Sich zurückziehen zu können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben und vor allen Dingen ohne sich rechtfertigen zu müssen, ist erstrebenswert. Alt sein im Kreise einer altersgemischten Gruppe und hier die Aufgaben übernehmen, die zu schaffen sind, wäre schon toll. Mir fehlt ein gelebter Zusammenhang von Familie oder Nachbarschaft. Ich muss mir etwas ausdenken. So schön das Leben alleine ist, ich weiß doch, dass ich in dieser Hinsicht noch etwas verändern will……
Nun bin ich aber vom Thema abgekommen.