Nicht schön, diese Hitze. Der ganze Sommer soll so werden und juchee: SonnenanbeterInnen können sich freuen und das kühle Nass genießen. So steht es in der Zeitung. Na gut, für mich ist das anders. Ich leide und jetzt höre ich auf vom Wetter zu schreiben.
Ich verbringe die Tage in der etwas kühleren Wohnung und auch dort mag ich mich kaum bewegen. Also nehme ich mir die Zeit und lese mal wieder in alten Tagebüchern.
Ich staune über das lebensfrohe Mädchen von 1968. Was waren das für Zeiten! Ausführliche Briefe wurden geschrieben (und aufbewahrt), Telegramme aufgesetzt, wenn etwas Wichtiges passierte, Ferngespräche führten wir nur abends und selten. Ich sparte viele Wochen für ein Kleid für 15 DM. Ich besuchte eine reine Mädchenschule und hatte viel Spaß mit meinen Freundinnen. Eisbahn, Schwimmbad, Sportverein, Theater, Kino und Tanzstunde! Die Bravo wurde gelesen und Dr. Sommer ausführlich diskutiert. Winnetou war unser Held und meine erste große Liebe. Also, eigentlich war es Pierre Brice, aber der nur als Winnetou. Hitparaden protokollierte ich jeden Sonntag und Platten konnte ich mir selten leisten. Ich nahm folgende Botschaft ernst: Mädchen sollten warten, sich aufheben, bis ein Mann sie „erweckt“. Und ich wartete! Ich wartete auf Anrufe und mochte mich nicht von zu Hause fortbewegen, wenn ein Junge versprochen hat, sich zu melden. Wie war das aufregend! Und manchmal auch enttäuschend. Es gab Papierkleider zu kaufen und daran erinnere ich mich überhaupt nicht. Ich hatte große Angst vor einem Krieg und vor der Umweltverschmutzung. Ich notierte alle Bücher, die ich gerade las. Ich hatte fast immer ein Buch vor der Nase und meine Familie wunderte sich über ihr verträumtes Reginchen.
Und dann begann mein Elend mit den schlechten Schulleistungen und dem gesteigerten Interesse an einer Parnersuche. Meine Eltern brachten beides zusammen. Sie wollten verhindern, dass ich mir einen Freund anlachte, der mich ja doch nur von schulischen Belangen ablenken würde. Denn lernen sollte ich, nicht lieben. Oft bekam ich zu hören: „Komm ja nicht mit einem Kind nach Haus!“ Das war das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnten. Man darf jetzt nicht vergessen, dass ich erst mit 21 volljährig wurde und bis dahin meine Eltern bestimmen konnten, wie ich ihrer Meinung nach zu leben hatte. Ich sollte mein Abi machen, dann studieren und mir dann einen Akademiker zum Heiraten suchen. So war ihr Plan. Ich sollte es ja mal besser haben als sie.
Mein Tagebuch, welches ich bis 1974 führte, beweist, dass meine Kindheit relativ unbeschwert, meine Jugend aber richtig schwer war. Ich sollte am liebsten überhaupt keine Jungen und Männer kennenlernen, aber das konnten meine Eltern natürlich nicht verhindern. Jeder, der mir zu nahe kam, wurde von ihnen heftig kritisiert. Keiner war gut genug für mich. Meine Eltern zwangen mich, mit meinen ersten „Freunden“ Schluss zu machen. Meine Mutter wurde „krank“, sobald ich meinen Willen und mein Wollen durchsetzte. Verliebtsein bedeutete für mich größtmöglichen Stress mit den Eltern. Gewalt kam ins Spiel und ich war mir dessen gar nicht bewusst. Ich fühlte mich einfach nur schuldig. Mein Umgang mit mir gestaltete sich immer seltsamer, weil ich meine Bedürfnisse mit denen meiner Eltern in Einklang bringen wollte. Ich war zwar trotzig, aber ich konnte mich nicht wirklich wehren. Ständig hatte ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, wenn ich das tat, was in mir lag: feiern, tanzen, verlieben, mich ausprobieren, fröhlich sein, Erfahrungen machen, Sexualität ausleben.
Ich lese das Tagebuch nicht zu Ende. Ich packe es wieder in seine Kiste. Mein inneres Kind ist weitgehend in Ordnung, ich sorge schon seit vielen Jahren für meine Innere Mittlere Frau. Ich weiß, dass sie nicht böse und unvernünftig war. Sie hat so sehr gekämpft und wurde dabei immer unscheinbarer. Sie hat sich trotzdem nie so ganz verloren. Auf eine eigene Art blieb sie stark und hielt stand. Ich weiß, warum sie so geworden ist, wie sie wurde. Ich habe Mitgefühl und ich höre auf, ihr Vorwürfe zu machen. Sie hat getan, was sie konnte. Manchmal stelle ich mir vor, wie das Innere Kind und die Frau, die ich heute bin, die Mittlere in die Arme nehmen, sie weinen lassen, sie trösten und ihr Mut zusprechen.
Ich konnte mich aus dem Korsett meiner Erziehung lange nicht befreien. Das richtige Loslösen geschah sehr, sehr spät und sogar mein eigenes Familienleben litt noch unter dem elterlichen Einfluss.
Das alles ist lange her. Den Vorsatz, es mit meinen Kindern ganz anders zu machen, hielt ich nicht immer ein. Aber vieles ist mir doch gut gelungen.
Meine Eltern sind beide tot. Ich weiß, wie sehr sie von ihrer eigenen Jugend und dem Krieg traumatisiert waren. Ich weiß, dass sie mich geliebt hatten. Ich denke, dass sie nicht wussten, was sie mir damals antaten. Sie lernten aus ihren Erfahrungen und meine Geschwister wuchsen schon wieder ganz anders auf. Sie konnten ihre Jugend relativ unbeschwert ausleben.
Manchmal bin ich wütend auf meinen Vater und meine Mutter. Aber ich bin im Reinen mit meiner Lebensgeschichte. Und so fühle ich mich meinen Eltern heute eng verbunden. Ich lernte, die Verantwortung für mein Lebensglück in eigene Hände zu nehmen. Was für eine Entlastung! Meine Mittlere hat sich schon ganz gut erholt.