Die Samtgemeinde schickt einen Brief an das Ehepaar Herrn und Frau Y. Ich bekomme Herzklopfen. Wir waren geschieden, also keine Ehepaar mehr und mein Mann ist im September 18 gestorben. Nun bekommen wir gemeinsam Post.
Die Samtgemeinde wollte die Grundsteuer und die Kosten für die Straßenreinigung für unser Haus im Mai von seinem Konto abbuchen. Das ging natürlich nicht, denn es ist längst aufgelöst. Wir sollen schnell den Betrag überweisen zusätzlich 3 Euro Stornogebühr, die die Bank erhoben hat. Und auf jeden Fall unsere neuen Kontodaten angeben, damit in Zukunft wieder ordnungsgemäß abgebucht werden kann.
Ich bin völlig fertig. Mein Herz klopft und mein Körper ist in Alarmbereitschaft. Ich fühle, es passiert etwas ganz Furchtbares.
Ich atme tief durch und weiß, dass das, was gerade in mir passiert, keine Reaktion auf die reale Situation ist. Mein Gefühlssystem erinnert sich an die schlimmen zwei Wochen, in denen mein Mann zusammenbrach und starb. Und an die Zeit danach, in der wir die Beerdigung organisierten und seinen Hausstand auflösten.
In den letzten Tagen lebte ich viele Momente in der Stille. Ich dachte häufig an ihn und daran, dass es ihn nicht mehr gibt, dass unsere Geschichte endgültig zu Ende ist. Ich war manchmal traurig, manchmal ging ich gedanklich einige Situationen durch, die besonders furchtbar für uns waren. Ich fragte mich, wie er sich wohl gefühlt haben mochte. Ich dachte an unsere Kinder, die zwar erwachsen sind, aber die es wirklich schwer hatten und haben. Mir wurde bewusst, wie unfassbar schlimm es für sie gewesen war. Ja, ich war damals meistens dabei, aber zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um mich wirklich einzufühlen. Ich dachte daran, dass von einem Moment zum anderen alles vorbei sein kann, auch für mich.
Ich fühlte mich trotzdem recht wohl in der letzten Zeit. Ich versank nicht in Trauer. Ich stellte mich den Erinnerungen. Und ich fand neue Aspekte in meinem Leben. Ich kam zur Ruhe.
Und jetzt dieser Brief! Mein Verstand bleibt ruhig und weiß, was zu tun ist. Mein Gefühl findet, dass die Welt sicher bald untergeht. Ich rufe bei der Sachbearbeiterin an und sie bleibt dabei: wir müssen die Grundsteuern für 2019 zahlen. Ja gut, mein Mann ist tot, dann muss eben die Erbengemeinschaft dafür aufkommen. Na gut, das Haus ist verkauft, aber solange das Finanzamt sich nicht bei der Samtgemeinde meldet, solange muss ich zahlen. Nein, sie kann sich auch keinen Vermerk machen, bis das Finanzamt sich meldet, würde ein Vermerk nichts nützen. Ich kann mir das Geld ja von den neuen Besitzern zurückholen. Oder sie darum bitten, die Grundsteuer zu zahlen. Wenn die das aber nicht tun, dann werde ich haftbar gemacht. Ich verstehe das nicht und bin rat- und hilflos.
Zum Glück bleibt mein Verstand cool und regelt, was zu regeln ist. Er weiß, dass das Gefühl gerade in der Vergangenheit festhängt und er alleine arbeiten muss.
Übrigens geht es um knapp 25 Euro! Wahrscheinlich werden die neuen Besitzer mir das Geld zurückzahlen. Das Finanzamt wird sich bei der Samtgemeinde melden. Es wird alles gut und es gibt überhaupt keine Katastrophe.
Also kein Grund zur Panik. Sagt mein Verstand.
Mein Gefühl dreht am Rad.
Nach einiger Zeit komme ich wieder bei mir an. Mein Gefühl erdet sich und ich merke an meiner Erschöpfung, dass ich einen heftigen Flashback durchlebt habe.
Zum Glück weiß ich das richtig einzuordnen, sonst hätte ich wohl an meiner geistigen Gesundheit gezweifelt.