Ich habe Besuch. Er sieht eindeutig aus wie eine Frau, die die Schwelle zum Alter bald übertreten wird. Aber noch nicht. Noch ist sie mittelalt. Also nicht mehr jung, aber eben auch noch nicht uralt. Sie sagt, sie sei mein Leben. Ich staune und biete ihr einen Tee an. Sie möchte etwas Stärkeres. Sekt vielleicht? Zum Kennenlernen und Schwesternschaft trinken.

Ich habe keinen vorrätig und biete ihr ein Bier an. Auch gut. Wir setzen uns und ich beäuge sie neugierig. So sieht also mein Leben aus! Ich erkenne ein paar Ecken und Kannten, ein paar Dellen, wo keine hingehören, aber ihr gutes Aussehen wird dadurch nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil, Persönlichkeit und Ausstrahlung ergänzen ihr Erscheinungsbild hervorragend. Ein schönes Leben habe ich da, denke ich.

Sie scheint mich sehr zu mögen und nimmt mich in ihre Arme, trotz Corona. Es fühlt sich gut an. Mein Leben meint es gut mit mir, das spüre ich. Ich entspanne mich und bleibe da, wo ich bin, denn die Nähe tut mir unendlich gut. Sie fragt, ob ich zufrieden sei mit ihrer Arbeit. Ich sage: „Ja, jetzt ja. Das war früher anders.“ Mein Leben schmunzelt und sagt, das wüsste sie. Sie hätte es manchmal schwer mit mir gehabt. Sie hat mir so viele Chancen gezeigt, die ich verträumt habe. Oder vor Angst gemieden. Selten hätte ich herzhaft zugegriffen. „Aber in entscheidenden Momenten eben doch“, werfe ich ein. Mein Leben sagt: „Es gab auch Momente, da hast Du zu früh zugegriffen und ich hatte alle Hände voll zu tun, dich da durch zu kriegen.“ Das stimmt. Manchmal bin ich zu früh abgebogen und manchmal zu spät. Und manchmal gar nicht. Aber ich habe mich immer durchgebissen. Ich hielt viel aus. „Zu viel ab und zu!“, meint mein Leben. Es war nicht immer leicht mit mir. Aber das sagte sie schon.

Das sei nun auch egal, führt mein Leben weiter aus, denn es gibt keinen Weg zurück. Darum wollte sie heute mit mir persönlich sprechen, denn der Lebensweg wird kürzer und sie will sehen, was sie noch für mich tun kann, bevor ich die letzte Zielgerade erreiche. Ich bin fast ein wenig empört. Gut, es geht mir körperlich nicht so gut. Schmerzen und Einschränkungen gehören zum Alltag. „Aber fertig bin ich noch lange nicht mit Dir! Lass uns zusammen feiern!“, sage ich und biete ihr ein neues Bier an. Mein Leben nimmt es gerne und möchte Musik hören. Ich werfe eine CD ein, öffne mein Fenster so weit es geht und kuschel mich an sie, während unsere Blicke ins Draußen schweifen. Ich fühle mich geborgen und überhaupt: es ist Sommer. Die Vögel zwitschern nicht mehr so heftig, aber die Hummeln, Bienen und Fliegen brummen umso lauter. Schmetterlinge sind ruhiger, aber genauso hungrig. Meine Blumen öffnen ihre Blüten so weit sie können und duften wahrscheinlich auch, aber das kann ich nicht wahrnehmen, denn mein Leben hat meinen Geruchssinn kassiert. Was ich ihr aber nicht übelnehme.

Und im Haus ist es auch schön, blitzblank geputzt und Sofa gemütlich. Sie fragt, ob es etwas gibt, was ich mir von ihr wünsche. Also für mich, nicht für meine Kinder, unterbricht sie meine Gedanken, als ich gerade von diesen anfangen möchte. „Die haben ihr eigenes Leben!“, erklärt mir mein Leben streng und grinst. Ja, stimmt. Mir kommt die Idee, dass ich nicht weiß, wie sich eine liebevolle Partnerschaft anfühlt. Mein Leben sagt, das läge nicht in ihrer Hand, aber sie wird mich daran erinnern, wenn es darauf ankommt. Ich wünsche mir, dass sich meine Gesundheit nicht verschlechtert. Mein Leben erinnert mich an Ernährung, Sport und Bewegung. „Das musst du selbst übernehmen“, sagt sie. Weiß ich doch! Dann wünsche ich mir eben, dass mein Leben weiterhin gut für mich sorgt und für mich da ist.

Sie nimmt mich noch einmal in ihre Arme und lässt lange nicht los. „Schön, Dich kennengelernt zu haben“, sage ich und mein Herz macht kleine Freudensprünge. Sie sagt, sie sei froh, dass ich mit ihr zufrieden bin. Das erleichtert ihre Arbeit ungemein und mit frischer Kraft kann sie weiterhin meine beste Freundin sein. Egal, was kommt, sie wird mich begleiten. Immer. Bis zum Schluss. Und bis dahin werden wir häufiger miteinander feiern und uns freuen, dass wir uns haben. Ich bin stolz auf mein Leben und das Leben ist zufrieden mit mir.

Anmerkung: Ich weiß, es heißt das Leben. Aber wenn es mich besucht, mein Leben, ist es eben eine Sie, kein Es!

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