Ratlos

Die absolute Wahrheit gibt es nicht. Das ist wahr. (Widerspruch in sich, ich weiß, mir ist aber danach!) Eine Gesellschaft funktioniert dann, wenn sie gewisse Wahrheiten als wahr anerkennt. Regeln werden aufgestellt und wenn sich die Allgemeinheit in der Regel daran hält, dann funktioniert das System. So einfach ist mein Weltbild.

Vor zwei Jahren diskutierten wir in der Philosophiegruppe darüber, was passieren könnte, wenn allgemein definierte Wahrheiten und Spielregeln von der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr anerkannt werden. Die Vorstellung fanden wir absurd. Wissenschaft bleibt Wissenschaft und unterschiedliche Forschungsergebnisse werden diskutiert. Punkt. Demokratische Spielregeln und der respektvolle Umgang miteinander werden doch bleiben. Und wenn eine Minderheit, die es ja immer gab und gibt, sich dagegen auflehnt, so ist das nicht so schlimm, denn die Vernunft wird die Oberhand behalten. Ja, sicher, wir waren der Ansicht, dass wir die Vernünftigen sind, auch wenn wir ganz unterschiedliche Meinungen vertraten.

Nun könnte ich meine Philosophiegruppe gut gebrauchen. Wie soll ich umgehen mit den alternativen Fakten, Wahrheiten und Demokratiebegriffen? Ignorieren, wie bisher, scheint mir kaum noch möglich.

Wie soll ich argumentieren, wenn mir jemand sagt, dass wir in einer Gesundheitsdiktatur leben und ich nur zu dumm sei, zu erkennen, wie sehr ich von der Wissenschaft, den Medien und den Politikern manipuliert werde? Ich habe ja nur die gleichen Argumente, nur anders herum. Die werden weggewischt mit einem: „Du bemerkst ja gar nicht, wie sehr du belogen wirst. Du glaubst an die falschen Fakten. Meine Wahrheit ist wirklich wahr!“ Das finde ich auch, nur andersherum und ich bin von meiner Wahrheit so überzeugt, dass ich keinen Millimeter davon abweiche. Jedenfalls nicht in diese Richtung.

Es gibt psychologische und philosophische Erklärungen für das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Das ist hilfreich, denn zu verstehen, was passiert, bringt mir schon eine ganze Menge. Mein ungutes Gefühl und meine Ratlosigkeit werden dadurch allerdings nicht besser. Froh bin ich nur, dass meine Liebsten mit einer Ausnahme ähnlich denken, wie ich. Das ist schon mal gut. Ich mag das: Diskutieren, Meinungen austauschen und vielleicht auch Kompromisse schließen. Respektvoll miteinander umgehen in unserer ganzen Meinungsvielfalt.

So bin ich nicht aufgewachsen. Meine Eltern ließen keine anderen Meinungen zu. Ihre Wahrheiten waren wahr und meine waren frech und aufsässig. Das war allgemein so in den Fünfzigern und Sechzigern. An diese Zeit fühle ich mich gerade wieder erinnert. Die Pandemie ist schon schwer zu tragen, aber das, was in Teilen der Gesellschaft sichtbar wird, ist fast unerträglich. Damit kann und muss ich jetzt leben, denn ich bin nicht allmächtig. Auch wenn ich am liebsten ordentlich auf den Tisch hauen möchte und sehr intolerant mehr Respekt und Vernunft einfordern will, kann ich das nicht machen, denn meine Wahrheit ist auch nicht allgemeingültig. Ich weiß.

Aber ich kann für meine Haltung weiterhin Verantwortung übernehmen. Mehr geht nicht, oder?

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10 Gedanken zu “Ratlos

  1. Das ist eine Frage, die ich mir auch zunehmend stelle. Wann ist ein Punkt erreicht, an dem (über Meinungsäußerung und verantwortungsvolles Handeln hinaus) entgegenzuwirken wäre – und wie könnte das aussehen. Ich weiß es (noch) nicht.

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  2. Nein, mehr geht nicht!
    ich habe eh seit längerem den Eindruck, dass Polarisierung zunimmt, nicht nur in Amerika, auch hier. In jedem Einzelnen von uns entstehen Brüche. Wie wir wieder zusammen fügen was auseinander zu brechen droht, um ganz und heil zu sein, das wird eine Herausforderung,der wir uns stellen müssen.
    Diese Aussage:

    „Du bemerkst ja gar nicht, wie sehr du belogen wirst. Du glaubst an die falschen Fakten. Meine Wahrheit ist wirklich wahr!“

    finde ich schlichtweg unverschämt, übergriffig und arrogant. Sie suggeriert nämlich ein Gefälle, so nach dem Motto: „Ich weiß mehr als du, und du bist zu dumm, um das zu verstehen. Ich bin besser als du.“
    So etwas macht mich rasend.

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  3. Das Schlimme ist, dass selbst dann, wenn ein gemeinsames Terrain an Lebensgrundsätzen und Werten vorhanden ist (man will niemandem schaden, man ist für demokratische Prozesse, man findet jedes Leben erhaltenswert) der Streit um die Corona-Maßnahmen oft sehr erbittert und persönlich verletzend geführt wird. Vielleicht ist das der Fall, weil es hier nicht nur um Meinungen, sondern um sehr tiefgreifende Einschnitte in die praktische Lebensführung geht. Damit kann sich der eine anfreunden, der andere kann es ertragen, der dritte fühlt sich bedroht und der vierte wird rasend. Wie jeder reagiert, hängt von vielen Faktoren ab. Eine Rolle spielen sicher seine Lebensverhältnisse (hat er ein gesichertes Einkommen? hat er einen Partner, Familie? wie wohnt er?), sein Alter (hat er schon gelebt? fühlt er sich um seine letzten Jahre betrogen? Wird er durch die Maßnahmen von seinen Lieben getrennt? ), seine Herkunft (hat er vergleichbare Situationen der behördlichen Bevormundung schon erlebt? Kennt er das Gefühl des Eingeschlossenseins durch Grenzen? Erinnert er sich an Diktaturen?), seine Erziehung und sein Temperament, sein Weltbild, sein Vertrauen ….
    Ganz wichtig scheint mir auch, ob jemand die Einschnitte als vorübergehend oder als dauerhaft erlebt. Ich glaube, die meisten können sich mit vorübergehenden Maßnahmen abfinden, nicht aber mit „lebenslänglich“. Die Erwartung, dass sich das, was wir jetzt erleben, als „neue Normalität“ etablieren könnte, setzt mir selbst am meisten zu.

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    1. Danke für Deine Ergänzungen, liebe Gerda. Ich erlebe die Einschränkungen als vorübergehend und vernünftig. Kann sein, dass viele der Menschen, die sich gegen die Maßnahmen auflehnen, befürchten, dass sie auf Dauer angelegt sind. Diesen Gedanken habe ich noch nicht begriffen, weil er mir so abwegig erscheint. Aber er hilft mir ein wenig weiter zu verstehen, was diese Menschen antreibt.

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  4. Ich kann gut nachvollziehen, was Dich umtreibt. Ich habe ein Familienmitglied und eine (ehemalige) Freundin, die ebenfalls von ihrer Wahrheit überzeugt sind und sich ihre Belege zusammengesucht haben und andere nicht zulassen.
    Es wird jetzt bei Corona besonders augenfällig, weil ein Abweichen ein Affront gegen die Gemeinschaft ist. Aber man muss auch sehen, dass wir hier von max. 10% der Bevölkerung reden. Insofern sehe ich nicht wirklich, dass wir angsteinflößende Tendenzen in der Gesellschaft haben. Immerhin hatten wir vor Corona ja die gleiche Diskussion über die AfD…
    Aufmerksam zu bleiben, ist richtig und wichtig.

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    1. Die Gruppe derjenigen, die den demokratischen Konsens aufgekündigt hat, liegt vielleicht bei 10 % bis 20%. Das kann unsere Demokratie aushalten. Ich fürchte jedoch, dass diese Gruppe größer wird, weil wir in einer Krise mit ungewissem Ausgang stecken. Bleiben wir also aufmerksam. Ich will zuversichtlich sein und hoffen, dass uns die demokratischen Werte nicht verloren gehen!

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