Kleines Mädchen

Ach, du arme Kleine. Komm her, ich nehme dich in den Arm. Ich bin für dich da. Du bist hier sicher. Guck mal, wie gemütlich wir es haben. Du darfst im Garten spielen. Du darfst laufen und hüpfen und fröhlich sein. Ja, sing nur so laut du kannst. Natürlich, auch weinen ist erlaubt. Du darfst deinen Willen wollen. Du darfst ausprobieren, was zu dir passt. Hier hast du Malstifte, Knete, Tusche, eine Schere und Buntpapier.

Ja, du darfst jetzt auch zornig sein. Es wird nichts passieren. Ich halte dich und liebe dich. Du hattest soviel Grund, wütend zu sein. Angst zu haben war angebracht. Du wurdest nicht gesehen. Es war dir nicht erlaubt, du zu sein und zu fühlen, was du fühlst. Wie schrecklich sind sie mit dir umgegangen. Ja, du wurdest verschickt. So hieß das damals. Ein kleines Mädchen wurde verschickt wie ein Paket. Es war zu dünn. Zu dünn!

Und dann hast du nichts mehr gefühlt und schnell vergessen. Wie Blitzlichter tauchen Erinnerungen auf. Jetzt, nach so vielen Jahren. Essen müssen bis zum Kotzen. Und dann gleich noch mal. Still sein. Nicht auffallen. Im Bett liegen wie ein Brett. Heimweh nicht erlaubt. Weinen nicht erlaubt. Lachen wahrscheinlich auch nicht. Ach, die Mutter fehlt und der Vater und die Oma und der kleine Bruder. „Der Mond ist aufgegangen“ gesungen von der Mutter kurz vor dem Schlafen. Wird es das noch einmal für dich geben? Jetzt, im großen Schlafsaal vergisst du dein Zuhause fast, denn du musst aufpassen, darfst dich nicht bewegen, mit dem Gesicht zur Wand! Wer nicht schläft, fliegt raus. Wer weint, darf das auf der Bank vor dem Schlafsaal tun. Bloß nicht ins Bett machen. Toilettengang nicht erlaubt. Krank werden, das geht. Krankenstation mit liebevoller Schwester. Kuschel dich ins Bett, meine Kleine. Auszeit vom Schrecken da draußen am Meer.

Komm her meine Kleine. Die Verletzungen kann ich nicht heilen. Das bleibt. Ich sehe dich, wie du dich zusammen kauerst und ganz klein machst. Gefühle gibt es nicht mehr. Sie nicht zu fühlen rettet Leben. Komm her, meine Kleine. Du bist jetzt hier und du bleibst bei mir. Ich konnte dich früher nicht sehen, denn ich hatte so viel zu tun und auch große Angst. Aber jetzt ist es Zeit und ich habe die Kraft, den Schrecken mit dir zu teilen.

Und vielleicht wird es besser. Vielleicht kann ich mich in Zukunft öffnen und Nähe leichter ertragen. Dabei hilfst du mir, meine Kleine. Aber erst einmal ruhen wir uns aus. Ich bin für dich da und heute gibt es Schokolade, soviel du willst. Dann bleibe ich eben dick, das ist gerade nicht so schlimm. Denn dicker sollte ich ja werden, damals. Das Ziel ist also erreicht.

Du lachst. Wie schön, meine Kleine. Geh in den Garten und lege dich in die Sonne. Und heute Nacht gucken wir Sterne! Du wirst sehen, wie die glitzern und funkeln! Komm her meine Kleine, wir hören Musik und wir wissen, der Schrecken ist vorbei. Er kommt auch nicht wieder, dafür sorge ich, denn ich bin eine starke Frau.

Gestern lernte ich das kleine Mädchen in einer Aufstellung kennen, welches noch in mir steckt. Gut versteckt hatte sie doch großen Einfluss auf mein Leben. Ich bin, wie ich bin, weil es sie gab und ich sie nicht sah. Jetzt kann ich mir vieles besser erklären und das entlastet mich. Auch wenn so tiefe Verletzungen nicht geheilt werden können, kann ich doch einiges für das kleine Mädchen in mir tun.

Und ich bin nicht alleine! https://www.op-marburg.de/Marburg/Das-stille-Leid-der-Verschickungskinder

16 Gedanken zu “Kleines Mädchen

  1. Selber wurde ich zusammen mit meiner Schwester verschickt. An die See und ich habe mich dort wohlgefühlt, auch wenn das Essen nicht immer schmeckte.
    Zugenommen habe ich nix, dafür ein paar Gramm abgenommen, aber das interessierte mich nicht.
    Mir wurde kein Leid zugefügt. Es war alles gut.

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      1. Ich war das erste Mal fünf (1957). Das zweite Mal wohl acht. Es war das selbe Heim, aber es gab kleinere Gruppen und Schlafräume. Ich habe an diese Zeit ein paar gute Erinnerungen. Ich wusste ja auch, dass ich wieder nach Hause komme. Das erste Mal war das nicht so klar. Ich erinnere mich an die Drohungen beim wöchentlichen Wiegen, dass ich noch einmal 6 Wochen bleiben müsste, wegen ich nicht endlich zunehmen würde. Für eine Fünfjährige hieß das fast lebenslänglich, denn sie gab sich Mühe, wurde aber nicht schwerer.
        Das ist heute anders. Ich kann nichts abnehmen, so gerne ich das auch will.

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  2. Ach ja,die Verschickungen.:-( Beim ersten mal war ich zwei Jahre alt. Beim zweiten mal schon 6 Jahre und hatte meine Schwester und eine ältere Freundin bei mir, was aber nicht viel nützte, weil die Kleinen nicht mit den älteren zusammen sein durften. Wenn ich verreise, bekommeich nach drei Tagen Heimweh.Ich schiebe es auf diese Verschickungen.

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    1. Ja, diese Zeit hat mit Sicherheit Auswirkungen auf das ganze Leben. Jetzt kann ich mir vieles erklären, das ist schon mal gut. Aber vorbei sein wird es nie. Wo bist Du gewesen? Liebe Grüße! Regine

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  3. ich entdecke auch gerade wieder wie schlimm die v erletzungen der Kindheit das hier und heute prägen und dass Emotionen heraus brechen die man nicht zuordnen kann … das ist erschreckend. aber vielleicht hilft das erknnen schon einen schritt weiter

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    1. Ich habe gelernt, dass so tief liegende Verletzungen nicht geheilt werden können. Ich kann sie aber lindern und lernen, sie zu akzeptieren und angemessen mit den Gefühlen umzugehen, die oft aktuell so gar nicht angemessen sind. Ich denke, das macht unser Menschsein aus. Liebe Grüße! Regine

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