Zucker

Vor vielen Jahren schickten sie mich zur Reha in eine Klinik, die auf psychosomatische Beschwerden spezialisiert war. Ich fand damals nicht, dass ich dort richtig war. Aber vor Angst ziemlich erstarrt zog ich die sechs Wochen so gut wie möglich durch.

Es stellte sich heraus, dass meine Zuckerwerte hoch waren. Ich bekam Zuckerwasser zu trinken und wurde weiter untersucht. Dann wurde ich zum Arzt bestellt, der mich darüber informierte, dass ich Diabetikerin sei. Er stellte mir einen Ausweis aus und ließ mich mit dem zusätzlichen Schrecken allein. Ich war ab sofort nicht mehr leicht übergewichtig, sondern nun hieß es Adipositas. Dementsprechend wurde mein Behandlungsplan geändert und ich bekam Ernährungsberatung, Beratung für Diabetiker und Kochunterricht. Wir mussten uns Schürzen anziehen und wurden zum Händewaschen geschickt, bevor wir schnippeln durften. Ich dachte dabei an meine SchülerInnen, die ich Zuhause vor dem Kochen genauso behandelte. Die Ernährungsberatung brachte mir gar nichts. Die Inhalte waren veraltet und ich wusste es besser. Was mir aber nicht geglaubt wurde. Vor jeder Mahlzeit musste ich meinen Teller vorzeigen und die Diätassistentin nickte den Inhalt ab. So kamen sehr zahlreiche Einzelberatungen zustande.

Wie schon erwähnt, wollte ich mich eigentlich mit meinen Angstattacken auseinandersetzen. Aber ich war nicht in der Lage, mich zu wehren. Ich machte alles brav mit. Aus heutiger Sicht war ich trotzdem ziemlich tapfer. Und ich habe nicht aufgegeben, habe mir so gut wie möglich aus eigener Kraft Gutes getan.

Ich hatte den Eindruck, dass sie ganz froh waren, mich in eine Schublade stecken zu können. Nun war ich eine Dicke unter Dicken, was die ganze Situation nicht besser machte. Noch eine Baustelle mehr, dachte ich damals. Allerdings stellte ich fest, dass meine Zuckerwerte noch im Grenzbereich lagen. Mit diesem Wert wäre ich ein Jahr vorher noch gar nicht auffällig gewesen.

Zuhause fand mein Hausarzt nach jeder Blutuntersuchung, dass meine Blutzuckerwerte in Ordnung seien. Ich bekam aber keine Klarheit darüber, ob ich nun Diabetes hatte oder nicht. Vor ein paar Tagen ließ ich mein Blut wieder untersuchen. Heute sprach ich mit dem Arzt. Er meinte, dass ich keine Diabetikerin bin. Die Zuckerwerte sind etwas erhöht, aber noch im Grenzbereich. Ich soll das weiterhin einmal im Jahr checken lassen.

Ich schreibe jetzt darüber, weil ich ziemlich wütend bin. Ich wäre damals lieber trommeln gegangen als kochen. Der Arzt hätte sensibler sein können. Ich hätte mich nicht widerstandslos in die Schublade stecken lassen dürfen.

Wobei ich jetzt den MitarbeiterInnen dieser Klinik keinen bösen Willen unterstellen will. Wahrscheinlich haben sie im Rahmen der Möglichkeiten ihr Bestes gegeben, vielleicht waren viele auch selbst ausgebrannt und erschöpft. Gerade ploppt eine andere Erinnerung auf: Wir mussten vor dem Frühstück in einer winzigen Halle Frühsport treiben. Das war Pflicht, wurde abgestempelt und darum war es immer ziemlich voll. Ich hatte soviel mit mir selbst zu tun und es kostete mich regelmäßig alle Kraft, nicht heulend zu flüchten. Ab und zu kriegte der Trainer eine kleine Wut und schimpfte über unsere verkniffenen Gesichter. Meine Güte!

Ich sollte auch regelmäßig an die Geräte und da habe ich gestreikt. Im Keller dicht gedrängt mit so vielen Menschen wollte ich keinen Sport treiben. Ich machte das einfach nicht und benutzte lieber die Treppe (6. Stock!) und ging viel spazieren. Es ging ordentlich bergauf und bergab, das war mir Training genug. Ich verheimlichte meinen Streik bei den Visiten nicht. Trotzdem stand in meinem Ärztebericht, den ich später zu lesen bekam, dass ich regelmäßig an den Geräten trainiert und große Erfolge vorzuweisen hätte. Da konnte ich schon wieder darüber lachen, denn Dank einer wunderbaren Therapeutin vor Ort lernte ich, meine Angst zu besiegen und wieder ins Leben einzusteigen.

Das ist nun schon viele Jahre her. Zum Glück habe ich mich von der Reha erholt und heute weiß ich genau: Zucker ist soweit in Ordnung! Und ins Fitnessstudio, wie ich im letzten Text noch großspurig ankündigte, brauche ich nun auch nicht mehr, weil ich gestern einen viel besseren Ort für meinen Rehasport fand! So, und wütend bin ich auch nicht mehr!

6 Gedanken zu “Zucker

    1. Das kann ich nachvollziehen und wünsche Dir, dass Du die Folgen schnell „abarbeiten“ kannst. Ich denke, es liegt am System. Ich hatte mir eine ganz andere Klinik gewünscht, die besser gepasst hätte. Die Krankenkasse hat anders entschieden und in dem damaligen Zustand war ich überhaupt nicht fähig, Widerspruch einzulegen. Alles Gute Dir! Regine

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    1. Es gab allerdings in den letzten zwei Wochen auch schöne Erlebnisse, an die ich mich ganz gerne erinnere. Viele Patienten waren begeistert, es war nur eben für mich nicht die richtige Klinik. Das ist jetzt Geschichte und noch einmal wird mir so etwas nicht passieren! Liebe Grüße und schönes Wochenende! Regine

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